Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit
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A

Einführung
KONZEPT

Einführung - Konzept

Bildung?

Nachdenken über unser Fundament

Wohin entwickeln sich die Leitbilder von Bildung und Lernen, wohin die materiellen Rahmenbedingungen von Bildung? Wir gehen im Folgenden auf einige Tendenzen der aktuellen Bildungsdebatte ein, die auch Einfluss auf die antirassistische und nicht-rassistische Bildung haben. Wir nehmen dabei sowohl die politische als auch die berufliche Bildung in den Blick.

„Der selbstverwirklichte Arbeitnehmer“

Der selbstverwirklichte Arbeitnehmer und die selbstverwirklichte Arbeitnehmerin sind die Ausgangskonstruktion eines in Politik, Instituten und auch Bildungsträgern weit verbreiteten neuen Denkens über Bildung, das oft als „modernistisch“ bezeichnet wird. Dieser Bildungsansatz geht davon aus, dass sich die abhängig Beschäftigten in der veränderten Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft der Gegenwart im Rahmen ihrer Erwerbsarbeit weitreichend selbst verwirklichen könnten. Die Arbeitswelt bringe immer komplexere Berufsbilder mit hohen Qualifikationsanforderungen an die Beschäftigten hervor. Sowohl fachlich als auch im Hinblick auf ihre sozialen und personalen Kompetenzen seien die Beschäftigten gefordert, ob als Abteilungsleiterin, Zugbegleiter oder Mitglied eines Produktionsteams. Der schnelle technologische Wandel erfordere dabei permanentes oder auch „lebenslanges“ Lernen. Die ArbeitnehmerInnen müssten dabei nicht nur auf fremdgesetzte Anforderungen reagieren, sondern könnten innerhalb ihrer Arbeit gestaltend Einfluss nehmen. Die neu erworbene Gestaltungskompetenz nutze den Beschäftigten sowohl innerhalb als auch außerhalb des Betriebes – die Selbstverwirklichungsansprüche des Individuums und die Qualifikationsanforderungen des Arbeitgebers stünden somit nicht mehr in unversöhnlichem Gegensatz zueinander.

Lernen, was nützt

Der Erziehungswissenschaftler Klaus Ahlheim kritisiert diesen „neuen Trend in der (politischen) Erwachsenenbildung“ als Sozialtechnik, die das Individuum funktionalisiert:

„Nun ist es in der Tat so, dass sich Qualifikationsanforderungen und berufliche Aus- und Weiterbildung in den letzten Jahren für viele, freilich längst nicht für alle zum Teil gravierend verändert haben und dass diese Veränderungen auch einhergehen mit Tendenzen der Humanisierung am Arbeitsplatz, mit der Zurückdrängung vor allem tayloristischer Arbeitsteilung. Und es ist auch so, dass sich besonders die sog. personalen und sozialen Schlüsselqualifikationen wie etwa Kreativität, Kommunikations- und Teamfähigkeit, Selbständigkeit, Selbstvertrauen und Kritikfähigkeit – partiell zumindest – der Elemente humanistischer Bildungstraditionen bedienen. Doch der hehre Anspruch, mit der Vermittlung von Schlüsselqualifikationen die Persönlichkeit zur Entfaltung kommen zu lassen, schlägt allzu leicht um in bloße Sozialtechnik, die das Individuum ganz und gar funktionalisiert. Denn das ökonomisch Nützliche bleibt, allen Anleihen beim humanistischen Bildungsgedanken zum Trotz, stets dominant. Es fordert die allseitige physische und psychische Verfügbarkeit der noch immer abhängig (!) Beschäftigten, es fordert die Identifikation aller mit Unternehmenszielen, die wenige formulieren, es fordert Anpassung mit dem Schein des Unangepassten, fordert Kritik, begrenzt durch den Begriff des Nützlichen, will Teamarbeit und Konkurrenz zugleich“ (Ahlheim 2000, S. 26f).

Die Zumutung lebenslanger Verfügbarkeit bleibt nicht ohne Folgen. Modellhaft gibt es drei Möglichkeiten, auf die „Anforderung Lernen“ zu reagieren:

  1. Anpassung an die gesetzten Lernanforderungen.
    Ahlheim sieht in der Anforderung, immer mobil und flexibel zu sein, eine Überforderung. Eine mögliche Reaktion sei eine überstarke Betonung des Nahen, des „Wir“. Wer sich dem hohen Anpassungsdruck unterwirft, fordere außerdem häufig auch von anderen, sich anzupassen.
  2. Widerstand gegen Verwertungslogik, Interesse an gesellschaftskritischer politischer Bildung.
  3. Widerstand gegen Lernen und Bildung allgemein.
    Mit diesen Reaktionsmustern ist auch die antirassistische und nicht-rassistische Bildung konfrontiert.

Politische Bildung – ein auslaufendes Modell?

Der Erziehungswissenschaftler Benno Hafeneger sieht die politische Bildung grundsätzlich in Frage gestellt. Nach seiner Beobachtung wird die politische Bildung zunehmend als für die Demokratieentwicklung in Deutschland nach 1945 historisch notwendiges, aber nun überflüssiges Projekt definiert (Hafeneger 2000). Die politische Bildung wird historisiert, d.h. einer geschichtlichen Phase zugeordnet und ihre grundlegende Bedeutung bestritten.

Die politische Bildung ist heute mit dem Argument konfrontiert, ein überflüssiger Luxus zu sein. Der Druck auf Bildungsträger und -arbeiterInnen steigt, die politische Bildung zeitlich und inhaltlich zu reduzieren. Wochenseminare werden gekürzt und Bildungsurlaub gestückelt, so dass ein Lernen immer weniger möglich wird, welches nicht nur an Erfahrungen ansetzt, sondern auch nach Alternativen sucht. In den Mittelpunkt schieben sich Themen, die oft noch als politische Bildung deklariert werden, aber damit bei näherer Betrachtung nichts mehr zu tun haben: Sie sind entweder auf die individuelle Bewältigung von Berufs- und Lebenslagen ausgerichtet oder auf die Anpassung an betriebliche Erfordernisse.

Klaus Ahlheim weist kritisch auf neue Tendenzen hin, berufliche und politische Bildung stärker zu verzahnen. Bei diesen als besonders innovativ dargestellten Modellen gehe es nicht mehr um einen gesellschaftskritischen Blick auf die betrieblichen Macht- und Besitzverhältnisse, sondern darum, „betriebliches Lernen als Trägermedium politischen Lernens“ zu begreifen, wie es sich beispielsweise der Erziehungswissenschaftler Rolf Arnold vorstellt (Ahlheim 2000, S. 26). Das bedeutet im Kern, dass die politische Bildung aus betrieblichen Erfordernissen abgeleitet wird, anstatt aus menschlichen und gesellschaftlichen, die den betrieblichen entgegengesetzt sein können. So zielt beispielsweise eine betrieblich abgeleitete interkulturelle Bildung auf die Effizienzsteigerung (internationaler) Konzerne und nicht auf die grenzüberschreitende Verständigung, wie die Welt gestaltet werden kann und soll.

Hier treffen sich Vorstellungen von Betrieb und Gesellschaft, in denen es keine Interessensgegensätze, Unterdrückung und Ausbeutung und folglich auch keinen Bedarf an gesellschaftskritischer Bildung mehr gibt, mit öffentlichen Sparkonzepten. Klaus-Peter Hufer beschreibt, wie die politische Bildung in den 90er Jahren unter betriebswirtschaftliche Zwänge geraten ist, weil öffentliche Zuschüsse stark reduziert wurden. Bildung, auch die politische Bildung, wird zunehmend als „Investition“ betrachtet und Investitionen müssen sich bekanntlich lohnen (Hufer 2002, S. 15). Wo das Motto lautet „Standort sichern“ und nicht mehr „Demokratie wagen“ sind Mündigkeit und Emanzipation aber keine notwendigen Investitionen mehr.

Antirassismus als nützliche Bildungsinvestition?

Die Historisierung der politischen Bildung kennt Ausnahmen. Gerufen wird nach der politischen Bildungsarbeit immer dann, wenn gesellschaftliche Entwicklungen in Gewalt münden. International Empörung auslösende rassistische und antisemitische Übergriffe führten sowohl Anfang der 90er Jahre als auch in den Jahren 2000 / 2001 zur Ausschüttung öffentlicher Mittel vor allem für die Jugendbildungsarbeit. Anfang der 90er Jahre sollten Gewalttaten mit Anti-Gewalt-Programmen bekämpft, ein Jahrzehnt später die Einstellungen von Jugendlichen durch Toleranzerziehung, interkulturelles Lernen und nun auch die antirassistische Bildung verändert werden. Die „Feuerlöschkonzepte“ fordern dabei mehr von der Bildungsarbeit, als sie ihr zugestehen: Die gesellschaftlichen Konflikte sollen gelöst, aber sie sollen nicht zum Thema gemacht werden – denn das ginge nur mit einer langfristig und breit angelegten Reflexion über die Gesellschaft und ihre Verwerfungen.

Bereits in den 90er Jahren wurde erkannt, dass Antirassismus durchaus eine nützliche (Bildungs-) Investition sein kann. Als zwei Beschäftigte von Elxo-Stahl in Eisenhüttenstadt aus rassistischen Motiven einen Imbiss überfielen und dieser Überfall bekannt wurde, analysierten Geschäftsleitung und Betriebsrat, dass dies für das Unternehmen als „global player“ schädlich sei. Die zwei jungen Männer wurden nicht weiter beschäftigt und es wurden mittelfristige Projekte gegen Rechtsextremismus gestartet. Ebenfalls in den 90er Jahren begannen IG Metall und der Arbeitgeberverband Gesamtmetall eine Initiative „Zusammen arbeiten, zusammen leben mit Ausländern“, die später vom DGB und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände übernommen wurde. In der Handreichung für Ausbilder heißt es über Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus im Vorwort: „Derartige Entwicklungen bedeuten sozialen Sprengstoff (und können dem deutschen Staat Schaden zufügen).“ Viele große Unternehmen haben erkannt, dass sich Rassismus zwischen den Beschäftigten negativ auf das Betriebsergebnis auswirkt und sind präventiv durch interkulturelle Trainings und Kompetenzförderung tätig.

Eine Situation, die viele neue Fragen aufwirft: Wie geht antirassistische und nicht-rassistische Bildung mit dem ökonomischem Kosten-Nutzen-Kalkül um? Ist automatisch schlecht, was der betrieblichen Effizienz nutzt? Oder alles gut, was dem Rassismus etwas entgegensetzt? Welche Wirkung geht davon aus, wenn interkulturelle Bildung sich finanziell auszahlen muss? Was bedeutet es, wenn über den Umgang mit Rassismus instrumentell entschieden wird?

Mut zur Utopie

Antirassistische und interkulturelle Bildung werden nur dann nicht im Geflecht nutzenorientierter und instrumenteller Erwägungen enden, wenn die politische Bildung als solche erhalten bleibt. Wenn wir die politische Bildung nicht gegen Zeitgeist und Sparvorhaben verteidigen, dann werden auch antirassistische und interkulturelle Bildung zu funktionalen Sozialtechniken verkümmern. Wir plädieren also unerschrocken: Für den Erhalt und Ausbau politischer Bildung, die gesellschaftskritisch ist, emanzipatorisch und handlungsorientiert. Und weil die politische Bildung Raum bieten soll für die Entwicklung von Utopien, fangen wir schon einmal an: Wir wollen bessere Rahmenbedingungen, ein Bildungsurlaubsgesetz für Thüringen zum Beispiel, und mehr Geld natürlich auch. Eine neue unbescheidene Bildungsdebatte wünschen wir uns und viele, die sie führen. Mit all den politischen BildnerInnen und ihren Trägern sind wir selbstbewusst, Wichtiges zur Entwicklung von Zukunftsvorstellungen und -phantasie beizutragen.

Literatur:
Klaus Ahlheim (2000): Zurück zur Kritik! Wider die affirmative Wende in der (politischen) Erwachsenenbildung, in: kursiv – Journal für politische Bildung 2 / 2000, Schwalbach / Ts.
Benno Hafeneger (2000): Hat die politische Bildung ihre Schuldigkeit getan?, in: Frankfurter Rundschau, 4.3.2000.
Klaus-Peter Hufer (2002): Unter dem Druck des Markts, in: Forum Erziehung und Wissenschaft, 1 / 2002, Frankfurt am Main.

Übersicht
A
Idee, Hintergrund, Konzeption
B.1
Jetzt geht's los!
B.2
Erfahrungen
B.3
Gesellschaft begreifen
B.4
Tu was!
B.5
Wie die Zeit verging
B.6
Themenungebundene Methoden
C.1
Von Vor- und anderen Urteilen
C.2
Antisemitismus entgegentreten
C.3
Rassismus als gesell. Verhältnis
C.4
Rassismus und Sprache
C.5
Sicherheit und Gewalt
C.6
Rechte Bilderwelten
C.7
Nation und Nationalismus
C.8
Migration
C.9
Weltarbeit und Wirtschaftswelt
C.10
Diskriminierung
D
Literatur, Medien, Adressen
E
Register, Inhalt
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